Skat und Zeichensprache

Mein Vater ist nun schon sehr schwerhörig und vergesslich. Es dauert lange, ein Gespräch in Gang zu bekommen, doch nach einer Weile geht es mit Mühe. Vor etwa 2 Jahren waren die letzten längeren, zusammenhängenden Gespräche, die ich mit ihm geführt habe. Morgen und übermorgen kommen noch zwei Tage mit langen Stunden beim Kaffee, ich nehme nochmals einen Anlauf. Immerhin sind ja noch die kleinen, mit viel Zeichensprache unterstützten Unterhaltungen möglich und auch Skatabende, auch wenn mein Vater mittlerweile drei bis vier Spiele braucht, um sich wieder voll zu orientieren bei den Spielregeln. 

 

In einem ehemaligen Bücherregal meines Bruders Marc finde ich "Der Archipel Gulag", A. Solschenizyn. Es scheint mir der richtige Zeitpunkt, darin zu lesen, und mache mich an den Prolog und die Anfangskapitel.

Schon im Prolog heißt es "Sollte meinem Land die Freiheit noch lange nicht dämmern", und bei diesen Worten will man abermals nicht glauben, wie fast nahtlos das sowjetische Unterdrückungssystem in ein aktuell national-russisches (neo-zaristisches) übergegagnen ist. Schauderhafter Stillstand der Moskauer Politik. 

 

In der Sonntagsausgabe der FAZ lese ich von der Lage im ehemals belagerten Tschernihiw, von der Ruhe seit dem Abzug der russischen Truppen Anfang April. Etwa zehn Mal hätten die Invasoren eine Bodenoffensive probiert, um Tschernihiw zu erobern, alle fehlgeschlagen.

Vor rund 80 Jahren Heilbronn, mein Vater erlebt im Dezember 44 aus der Perspektive eines Nachbarorts die Vernichtung der Heilbronner Innenstadt. Und er selbst saß oft im Keller, da der eigene Vater als Angestellter der Bahn eine Dienstwohnung im Bahnhof selbst hatte, der wiederholt von Tieffliegern angegriffen wurde. Eine Bombe traf einst einen Seitenflügel.

Im Zeitungsinterview eine Frau, die vor ihrem zerstörten Haus in Tschernihiw steht und sagt, dass man es vor dem 24. Februar nicht für möglich gehalten hätte, dass der Kreml diesen umfassenden Angriffsbefehl gibt. 

 

Was für eine unfassbare Ungeheuerlichkeit dieser Krieg bis heute ist, jeden Tag ist er diese grausame Wahnsinnigkeit.